Der Pappberg

 

Der Pappberg

Ist der Ort, wo drei Menschen am Ostersonntag 1974 glücklich sind.

 

Der Pappberg

Ist der erlebte Schnittpunkt der zwei Geraden Krieg und Frieden.

 

Vierzehnter April, Ostern, Sonne

und Ihr seid bei mir,

Du und Dein Sohn,

seit gestern.

Als ich Euch holte vom Zug,

lachst Du

und zeigst mir die Hand,

eingewickelt in Leinen,

das braun ist, voll Blut.

„Sieh mal, um zu Dir zu kommen,

hab’ ich mich so sehr geeilt,

dass ich die Hand

beim Schliessen des Fensters in meiner Wohnung,

durchs Glas stiess.

Du hättest hören sollen,

wie‘ s klirrte,

vier Stockwerke tiefer!“

 

Im Luftschutzkeller

frag‘ ich den Jungen.

ob er Angst hat,

wenn es draussen so laut ist.

Er schüttelt den Kopf

und ich frage „warum nicht?“

„Ich bete.“

„Ich auch“, sage ich,

und er fragt mich „was?“

„ich bin klein, mein Herz ist rein,… - und Du?“

„Vater unser…“

Ich denke:

Der muss schon sehr gross sein.-

 

Der Junge ist vierzehn.

Er geht in Frankreich zur Schule,

spricht nur französisch,

und meine Sprache ist deutsch.

Doch er meint:

„Tu comprends vachement bien“,

Und wir spielen das „vachement“- Spiel.

Das Wetter ist „vachement beau …

et tu es vachement gironde …

und der Berg zu dem wir jetzt gehn,

ist vachement aus Pappe?“

„Naja, sage ich,

vachement viel Kammern im Fels,

Treppen, Plätze und Pisten,

alles getarnt,

das nenn‘ ich Pappe,

vachement!“

 

Wie alle Häuser in jener Gegend

so hatte auch unseres

zwei Aufgänge.

Der eine: Teppiche, holzgetäfelt und Lift.

Der andere: spindelförmig die Wendeltreppe,

-  scala communis -

Wände und Stufen aus Stein.

Seit meinem Traum

sass ich oft dort,

den Kopf auf die Knie gestützt

und fühlte mich sicher.

Im Traum sah‘ n die Bomben aus

wie Kastanien,

sie fielen durch‘s Fenster herein,

braun und gelackt,

platzen mit schrecklichem Lärm

und alles brannte.

Nur im Dienstbotenaufgang

wie man ihn nannte,

war keine Nahrung für‘ s Feuer.

 

Als „Militärzone“

gilt unser Dorf

und noch weiter hinauf

das Tal.

Alles zum Schutz für den Pappberg.

Wir sitzen an steinernen Tischen

auf steinkalten Bänken und reden.

Der Fels ist,

wie überall in der Gegend,

Granit

Mit silbern schimmernden Glimmer.

Der Junge ist glücklich.

Das einzige, was ihm noch fehlt,

wie er sagt

wär‘ Musik.

 

In Vaters Zimmer lagen

die unheimlichen Masken

aus grauem Gummi und Glas.

Meine Mutter sagt:

„Kommt, wir spielen Gespenster!“,

stülpt sie uns über den Kopf

und wir jagen um Sessel und Tische.

Der zappelnde Rüssel schlägt gegen die Brust.

Das Atmen macht Mühe.

Die Augenfenster beschlagen.

Das Spiel ist vorbei.

 

Am Fusse des Berges sind Häuser,

pfirsichfarben,

rosa, hellgelb und weiss

und sogar

ein Restaurant,

bewohnt,

doch vielleicht

auch das nur zur Zeit.

Dann gibt’s noch den Bahnhof.

Die Züge, die selten kommen und gehn,

stehn niemals im Fahrplan.

Leere Patronenhülsen liegen im Gras.

Holzbohlen, aufgeschichtet

und Eisenrohre,

lagern neben den Weichen.

Die Feldküche, einmal bedeckt mit Wellblech,

ist dennoch verrostet,

nur die Betonmischmaschine scheint neu

und das schwere Tor, das den Tunnel verschliesst,

zu dem die Schienen führen.

Dahinter ist noch eine Brücke.

Dort enden die Schienen,

in Sträuchern, Fels und Geröll.

 

Der einzige Satz,

den ich heute noch höre,

als wäre nicht ich das Kind

das ihn sprach:

„Vati! Das Feuer kommt an meine Beine.-„

 

Wir klettern weiter im Pappberg,

von Höhle zu Höhle.

Der Junge steigt manchmal hinein.

Kalt ist es drinnen und feucht.

Oft ist der Eingang verschlossen

mit Holztüren, Gaze und Stacheldraht,

davor wuchert das frische Laub,

als Tarnung,

und manche Attrappe

wird fast zur Natur.

Künstlich – natürlich,

Vergangenheit – jetzt,

Krieg oder Frieden.

Oft war ich hier

und beschreibe den beiden die Wege,

die ich ein andermal ging.

 

Der Bunker für Kinder

war fertig gebaut,

endlich,

und jeden Abend zogen wir hin,

einige hundert.

Leberwurstbrote gab’s da,

so dick bestrichen wie nirgends.

Dann gingen wir schlafen.

Am Morgen kamen die Eltern uns holen.

Wenn niemand mehr kam,

nahm eine Nonne das Kind.

 

Am steinernen Kommandopult

spielen wir den Ernstfall.

„Wo kommt die rote Hundehütte her,

nahe dem Tor?“

„Verschwinden!“

„Auch die Kneipe muss weg!“

„Rührt Euch!“

„Die sicherste Höhle dem Offizier!“

„Abtreten.“

Und der Junge fragt:

„Im „Gotthard“, sagt man

sei eine Stadt

für Soldaten.

Die können da wochenlang leben,

unterirdisch im Fels

und haben ein richtiges Kino-

Ist das wahr?“

 

Die Überraschung war gross,

als eines morgens

die Strasse bunt war

von Spielzeug,

kleine, rot leuchtende Autos

aus Holz

und silbern glänzende Fäden,

knitterig,

wie wir sie kannten vom Christbaum.

Doch die Erwachsenen

verdarben den Spass

als sie uns sagten

die Bomber hätten das abgeworfen

und alles wäre vergiftet.

Es war verboten

damit zu spielen

nur schauen konnten wir noch,

bis ein Mann kam,

mit Karre und Besen,

und alles verschwand!

 

Du bist keiner der Männer

die meinen,

sie brauchten

die Blumen nicht zu kennen.

Und so sag‘ ich Dir

alle Namen,

auch die Blüten der Obstbäume

kannst Du schon unterscheiden.

Im Pappberg zeig‘ ich Dir Farne,

Veilchen,

Spitzwegerich,

Löwenzahn

Und dann die kleinen blauen,

die Männertreu heissen.

„Das kann ich mir merken“,

sagst Du

und steckst mir eine in’s Haar.

 

Man hatte uns evakuiert

Der Schulweg war lang

von draussen bis in die Stadt,

und meistens ging ich allein.

Doch einmal kam mit mir ein Junge,

den sah ich nie wieder,

der war schon grösser,

er sagte Worte wie „Schwein“,

als er vom Führer sprach,

dass man ihn aufhängen sollte

und andere auch,

dann wäre der Krieg zu Ende.

Ich staunte.

Zu Hause, da sagte niemand den Namen

und in der Schule

beteten wir für ihn.

„Du meinst, es gibt keinen Sieg,

und Luftballons für alle Kinder

und Würstchen?“ – frag‘ ich den Jungen.

Der lacht.

 

Aus einem Ast

schnitzt sich der Junge

die Lanze,

zweieinhalb Meter lang.

Vor uns läuft er den Weg

und schwingt sie bei jedem Schritt.

Du nimmst mich in Deine Arme

und hältst mich.

 

Sie hatten den Kindern Gewehre gegeben.

Die schossen damit

von den Dächern.

Wir hängten das Betttuch heraus

und banden das Taschentuch

um den erhobenen Arm.

Als es ruhiger wurde,

flüchteten wir

in den verborgenen Keller.

Wir lebten dort

mehrere Wochen,

flüsternd,

drei Familien zusammen.

Oft lag ich auf meiner Pritsche

und stellte mich schlafend.

Da sagt eine ältere Frau:

„Schaut nur, wie friedlich schläft dieses Kind!“

Und ich denke:

„Ach, wenn die wüsste …“

 

Hinter Tannen und Kiefern

entdeckt der Junge

den

künstlichen

See.

 

Die Russen sind da.

Waffenstillstand kam später.

Vor unserem Haus stand einer Wache,

dem wuchs an der Kante der rechten Hand

noch ein sechster Finger heraus.

Den Kolben von seinem Gewehr

stützte er auf den Schuh

und steckte den sechsten,

der passte gerade,

hinein in die Mündung.

So machte er sich’s bequem.

 

Der Junge nimmt Steine

und lässt sie springen

über das Wasser.

Wir suchen uns grosse,

die leicht gehöhlt sind und rund,

breit genug für den Rücken

und legen uns in die Sonne.

Du sagst:

„Es hängt davon ab,

den Platz zu finden,

wo man sich wohl fühlt,

in so einem Stein,

wenn’s der Moment ist,

den man ganz leben will.“

Der Junge singt,

und als er ausrutscht

am Ufer

und nass zurückkommt,

spritzt er uns voll

aus tropfenden Socken.

 

Die Kraft meiner Mutter war,

so zu leben,

als gäb’s die „Verhältnisse“ nicht.

Sie klagte nicht,

als sie die Eicheln kochte,

sie sagte:

„Kinder, heut‘ ist ein Fest,

es gibt „Marzipankartoffeln“ zum Essen!“

und rollte den Brei zu kleinen Kugeln,

die färbte sie braun.

Wir wussten nicht, was das ist: „Marzipankartoffeln“.

Es war auch kein Fest.

Wie Kinder erbrachen das Essen

im Schlaf,

und wurden geschlagen

aus Angst.

 

Wir sammeln Sauerampfer

für eine Suppe

und füllen damit

den schwarzen Schlapphut.

 

Zu Hause sagten wir keine Schimpfworte

und ich kannte auch keine.

Als ich ins Kinderheim kam,

wegen Untergewicht,

stritt ich mal mit einem Mädchen,

und, um sie zu treffen,

sag‘ ich:

„Dein Vater hat einen Blechbauch!“

Doch nun hiess es,

ich hätte „Holzbein“ gesagt,

und das hatte der Vater

tatsächlich,

was ich nicht wusste,

„fürs Vaterland und für uns alle!“,

wie die Erzieherin bitter bemerkt,

die mich straft.


IL293

 

Der Pappberg, 1974

 

La montagne en carton, 1974

 

15 color photographs, 25 texts, mounted on 12 cardboard panels, each 63.5 x 39.7 cm

Edition of three

 

One copy: Collection Eric and Xiane Germain, Paris

 

Provenance

The artist

 

Exhibitions

Galerie Germain, Paris 1975

Musée d’Art Moderne de la Ville de Paris 1976

Galerie nächst St. Stephan, Wien 1977

Forum Stadtpark, Graz 1977

Galerie Krinzinger, Innsbruck 1977

Helmhaus Zürich 1989

 

Catalogues

Wiesbaden 1993, p 95

 

Texts

Adam 1993