Es war einmal eine Frau, die hatte ein so reines Harz, dass Gott ihr außer Schönheit und Anmut noch einen Gemahl schenkte, der sie mehr als alles in der Welt liebt. Die beiden waren glücklich und hätten keine Sorgen gehabt, würde nicht seit einiger Zeit ein furchtbarer Drache das Land in Schrecken gehalten haben.

 

Der Drache hatte Augen und Arme, die er gleichzeitig in alle Himmelsrichtungen lenken konnte, er fraß kleine Kinder, Männer und Frauen und kaum einer vermochte es, sich vor ihm zu verbergen. Trotz der ständigen Angst, in der nun alle Menschen lebten, wünschten die schöne Frau und ihr Gemahl sich inbrünstig ein Kind. Und als die Rosen in voller Blüte standen gebar die Frau ein kleines Mädchen, das, kaum war es auf der Welt, die Augen öffnete und lächelte.

 

Das Kind wuchs heran zur Freude seiner Eltern und war so heiter und sanft, dass die Schmetterlinge auf seinen Zöpfen verweilten und die Eidechsen ihm einen „guten Morgen“ wünschten. Als es grösser wurde, bekam es zum Spielen noch einen Bruder und eine Schwester und einige gestrenge Weise, zum Erlernen der schwierigsten Zahlen und Buchstaben. In jene Zeit fiel auch das glückliche Ereignis, dass das Land von dem Drachen befreit wurde. Viele Mutige hatten sich bereits geopfert, in der Hoffnung den Drachen im Kampf töten zu können. Doch es gelang keinem. Da aber des Drachen Hunger auf Menschen so groß war tötete er sich eines Tages selber. Er überfraß sich nämlich und zerplatzte mit einem ungeheuren Knall.

 

Einmal kam in die Stadt eine Gruppe Spielleute. Von Stund an hatte das Mädchen nur noch den einen Wunsch, mit ihnen zu ziehen und auch so schöne Geschichten darzustellen. Die Mutter weinte, denn sie liebte ihr Kind und hatte Angst, dass in der weiten Welt ihm ein Leid geschehen könnte. Doch das Mädchen bat und bat und als Vater und Mutter sahen, dass es sie nicht länger zu Hause hielt, umarmten sie einander und nahmen Abschied.

 

Nun lernte das Mädchen die Kunst der Spielleute und bald wusste es selber so schön die Geschichten vorzutragen, dass viele Menschen kamen, um dem Mädchen zuzuhören. Die Kunde verbreitete sich rasch und erreichte auch Vater und Mutter, die fortan nicht mehr traurig waren. Eines Tages beschlossen das Mädchen und die Spielleute in ein fernes Land voller Berge zu gehen, um auch dort ihre Stücke vorzuführen. Lange mussten sie reisen. Und als sie endlich ankamen, war es tiefe Nacht. Doch das Mädchen war noch nicht müde, es wartete, bis alles schlafen gegangen war und machte sich dann auf den Weg, um das fremde Land etwas besser kennenzulernen.

 

Es dauerte gar nicht lange, da hatten es seine Füße geradewegs vor ein großes Tor geführt. Das war so kunstvoll geschmiedet und leuchtete trotz der Dunkelheit der Nacht so hell, dass das Mädchen neugierig wurde und überlegte, wer wohl dahinter wohnen könne. Und während es sich noch fragte, ob es wohl erlaubt sei, dort einzudringen, öffnete sich das Tor von selbst, ohne, dass irgendjemand sichtbar wurde und schloss sich von unsichtbarer Hand, kaum, dass das Mädchen über die Schwelle getreten war. Es war so überrascht, dass es nicht wagte einen Schritt in irgendeine Richtung zu tun. Und als eine mächtige Stimme ertönte, die rief: “DAS IST DAS REICH DES ZAUBERERS PIZZIGRINI“, sank es vor Schrecken bewusstlos zu Boden.

 

Als der Morgen dämmerte, erwachte sie aus einem tiefen Schlaf und da sie so seltsame Dinge geträumt hatte, fürchtete sie sich auch nicht mehr, obgleich sie ahnte, dass der Fremde, der vor ihr stand und sie mit durchdringenden Augen anschaute, der Zauberer selbst sein musste. „Ich habe viele Jahre auf Dich gewartet.“ sagte er freundlich, nahm sie bei der Hand und führte sie zu einem grossen Baum, in dem er wohnte.

 

Das Mädchen war so erstaunt, im Reich eines Zauberers zu leben und mit einem Zauberer zu sprechen, dass sie nur noch selten an ihre Spielleute dachte, stattdessen den ganzen Tag zu des Zauberers Füssen saß und sich von ihm erzählen ließ. Am siebenten Tag sagte der Zauberer: „Ich habe Dir jetzt eine Woche lang von dem Leben eines Zauberers erzählt, es ist die Zeit, Dir ein großes Geheimnis anzuvertrauen und eine Frage zu stellen. – Bist Du bereit?“ Der Zauberer wartete, bis das Mädchen zum Zeichen der Zustimmung nickte und fuhr dann fort:

 

„Es ist viele Jahre her, seit mich ein schreckliches Leiden zu quälen begann, welches ich unwissend auf mich nahm, um der größte aller Zauberer zu werden. Damals begegnete mir ein Zwerg, der mit mir einen Handel um ein Kraut machte. Eigentlich waren es zwei Kräuter. Der Trank aus dem ersten verlieh die Gabe, ins Innerste der Menschen hereinschauen zu können, alle Ihre Gedanken, verborgensten Wünsche und Ängste zu sehen. Der zweite Trank sollte diese Gabe wieder vergessen machen. Wir wurden damals nicht einig und so zahlte ich dem Zwerg nur das erste Kraut.

 

Es kam die Zeit, da ich mich nicht mehr erinnern konnte, wie die Farben der Augen bei den Menschen sind oder der Schimmer ihrer Haut. Für mich sind sie vollkommen aus Glas. Ich sehe in ihren gläsernen Körpern das Herz schlagen und statt des roten Blutes sehe ich in ihren Adern ihre Gedanken. „Und siehst Du mich auch aus Glas?“ fragte das Mädchen. „Ja“ sagte traurig der Zauberer und beide schwiegen lange. „Du wolltest mir eine Frage stellen“ begann das Mädchen. Und wieder schwiegen beide lange, bevor der Zauberer fortfuhr: „Die Frage lautet: Willst Du bei mir bleiben und das zweite Kraut suchen?“ Die Augen des Mädchens leuchteten, denn sie wünschte nichts sehnlicher, als den Zauberer von seiner Traurigkeit zu erlösen. Und so blieb sie bei ihm. Jeden Tag bei Sonnenaufgang ging sie nun in den Wald und sammelte von jeder Pflanze Blüte, Stengel und Wurzel brachte alles dem Zauberer und kochte ihm am Abend einen Sud aus dem, was sie gefunden hatte. Selbst als der Winter kam, suchte sie noch unter dem Schnee die frischen Kräuter.

 

Anfangs hatte das Mädchen manchmal gefragt ob der Zauberer schon die Farbe ihrer Augen erkennen könne, aber er hatte jeweils nur traurig den Kopf geschüttelt.

 

Zuweilen erfüllte die Traurigkeit den Zauberer ganz und gar. Dann züngelten die schrecklichsten Blitze aus seinen Armen und der Baum, in dem sie wohnten, erbebte von Donnerdröhnen. Das Mädchen hätte den Zauberer gerne getröstet, aber sein Zorn konnte so furchtbar werden, dass sie nicht wagte, sich ihm zu nähern. In diesen Tagen musste sie mit ansehen, dass er Menschen mitten entzwei riss, Vögel im Flug erschlug und sich selbst die schrecklichsten Wunden zufügte. Und so geschah es immer häufiger, dass das Mädchen sich vor ihm fürchtete.

 

Ein zweiter und ein dritter Winter waren ins Land gezogen, als das Mädchen eine Entdeckung machte, die sie mehr als alles bisherige erschreckte. Sie hatte sich wie üblich zu des Zauberers Füssen gesetzt, nachdem sie ihm den Trank bereitet hatte. Und zum ersten Mal hatte sie das Gefühl, dass mit seinem Äussern eine Verwandlung vor sich gegangen war. Allabendlich, wenn sie sich nun neben ihn setzte, beobachtete sie ihn genau und tatsächlich konnte sie jetzt mit ansehen, wie der Zauberer allmählich begann zu versteinern. Nun ging das Mädchen noch eifriger an die Arbeit, das rettende Kraut zu suchen. Und kein Morgen verstrich, an dem sie sich nicht mit neuer Hoffnung auf den Weg machte. So vergingen die Jahre.

 

Das Mädchen bereitete zwar noch allabendlich den Trank und setzte sich dann zu Füssen des Zauberers, aber er hatte sich längst in einen massigen Fels verwandelt. Nur wenn die Tränen des Mädchens in den Stein rannen konnte es geschehen, dass ein kaum wahrnehmbares Zittern den Berg erschütterte. Nun war das Mädchen im Reich des Zauberers ganz alleine und voll grenzenlosem Kummer. Als das zehnte Jahr angebrochen war ging das Mädchen zum letzten Mal zu der Stelle, wo früher der Zauberer gesessen hatte, strich mit der Hand über den Fels drückte ihr Gesicht an den kalten Stein

und nahm Abschied.

 

Es begannen nun die langen Jahre der Wanderung in denen das Mädchen um die halbe Welt lief. Sie traf ihre Spielleute wieder, Vater, Mutter und Geschwister, andere Zauberer, aber nirgends verweilte sie lange. Es war, als ob sie wüsste, dass sie an einem ganz bestimmten Tag, an einem ganz bestimmten Ort, zu einer ganz bestimmten Stunde ankommen sollte. Und so eilte sie sich und lief, ohne zu wissen warum und wohin.  Tatsächlich geschah inzwischen etwas höchst Merkwürdiges.

 

Es war schon einige Jahre her, da hatte der Abendstern eines Nachts in seinem Funkeln und Blinken ein wenig übertrieben, so dass ihm vor Anstrengung ein Splitterchen abplatzte. Das sauste nun durch den Himmel, vorbei an unzählbaren, riesigen Sternen, die es lockten und baten, bei Ihnen zu bleiben.

 

Doch als es von weitem die Erde sah, beschloss es, sich dort und nirgendwo anders niederzulassen. Kaum hatte der Sternsplitter diesen Entschluss gefasst, trat eine seltsame Veränderung mit ihm ein, die sich aber als außerordentlich nützlich erwies. Zuerst bemerkte er nur ein prickeliges Kitzeln an seiner Oberfläche, als ob tausend kleine Bläschen aus ihm heraus wollten. Aber als er genau hinschaute, waren es tausend kleine Härchen und mehr, die zu einem herrlichen Bart wuchsen. Das Fliegen machte ihm nun noch mehr Spass, denn mit dem Bart konnte er sich sanft in jede beliebige Richtung lenken.

 

Als er ein prächtiges Schloss, mit Säulen und einem spitzgiebeligen Dach entdeckte, gelang es ihm, seine Füsse – je näher er der Erde kam, desto ähnlicher war sein Äusseres den Menschenmännern geworden und so waren ihm natürlich auch Füsse gewachsen – genau vor dem Eingang des Schlosses niederzusetzen. Niemand schien diese ungewöhnliche An-

kunft bemerkt zu haben.

 

Da der Sternsplittermann noch nicht wusste, wie die Sitten auf der Erde sind und er außerdem zum überquellen fröhlich war, tat er etwas, das in dieser Gegend nicht üblich war. Er öffnete seine Arme und drückte den ersten Menschen, der sich ihm näherte, während er noch an der Schlosspforte stand, an sein Herz. Erst als er die Arme wieder öffnete, schaute er sich den Menschen etwas genauer an und sah geradewegs in das fröhliche Gesicht des Mädchens. Und als er die Farbe ihrer Augen sah und ihr Lachen hörte, freute er sich noch mehr, auf der Erde zu sein. Obgleich sie einander ja gerade erst begegnet waren und kaum kannten, dachte jeder vom anderen, es wäre gut, noch länger mit ihm beisammen zu bleiben. So gingen sie gemeinsam in das Schloss, in der Hoffnung, dort Arbeit zu finden.

 

Man bereitete gerade ein grosses Fest vor.  Diener und Höflinge hatten alle Hände voll zu tun. Auch einige Beamte nahmen an den Vorbereitungen teil. Es war leicht zu sehen, wie sie einander übel wollten und jeder versuchte des anderen Arbeit zu verhindern, um die eigene ins rechte Licht zu rücken.

 

Da schauten sich der Mann und das Mädchen an, beide wussten, was der andere dachte und sie verließen das Schloss so schnell als sie gekommen waren.

 

„Wir sollten in einem Garten leben, wo es keine Diener, Höflinge und Beamte gibt“ sagte das Mädchen. „Aber wo gibt es den?“ fragte der Mann. „Wir müssen ihn uns nur stark genug wünschen: „seit ich Dich kenne, weiss ich, dass ich mehr Kraft habe, mir etwas vorzustellen und zu wollen, als jemals vorher.“ Und so wünschten sie sich einen Garten. Als sie am anderen Morgen erwachten und die Sonne über gewaltigen Baumwipfeln aufgehen sahen, waren sie deshalb nicht überrascht, sondern freuten sich nur, dass alles so geschehen war, wie das Mädchen vorausgesagt hatte.

 

Nun begann für die beiden eine herrliche Zeit. Den ganzen Tag liefen sie durch ihren nicht enden wollenden Garten. Dabei brachte das Mädchen dem Mann die Namen aller Blumen bei, denn die hatte er natürlich auf seinem Stern nicht lernen können. Wenn das Mädchen müde wurde und sich niederlegte, deckte der Mann sie mit Moosen und Farnen zu.

 

Und wenn der Mann müde wurde und sich setzte um ein wenig zu schlafen, flüsterte das Mädchen zu den Blättern der Bäume, dass sie im Wind schweigen mögen, um seine Träume nicht zu stören.

 

Sie hatten nun schon viele Monate glücklich in Ihrem Garten gelebt, da erinnerte sich das Mädchen der Lehren ihres Zauberers und sagte zu dem Mann: „Ein Garten hat einen Eingang und einen Ausgang. Wir müssen beide suchen gehen und bewachen lassen, denn es ist hier so schön, dass missgünstige Zwerge kommen könnten, um uns in unserem Glück zu stören“.  Der Mann lachte meist, wenn das Mädchen von den Lehren des Zauberers erzählte, weil er sich nicht vorstellen konnte, dass Zwerge, Menschen, Drachen, Zauberer oder Riesen gefährliche Dinge tun könnten. Doch dann erinnerte ihn das Mädchen daran, dass er ja von einem Stern gekommen sei und nicht wissen könne, wie es auf der Erde zugehe.

 

So willigte er in ihre Pläne ein und sie machten sich auf die Suche. „Aber WIE werden wir den Eingang bewachen lassen?“ fragte der Mann, nachdem sie ihn gefunden hatten. „Das ist ganz einfach“ sagte das Mädchen, „wir müssen uns unseren Wächter nur wieder vorstellen und ganz stark wünschen und genauso wird er aussehen. Sie schlossen die Augen – denn es ist immer leichter mit geschlossenen Augen etwas zu wünschen – und wünschten sich einen dreiköpfigen Hund.

 

Ein fürchterliches Bellen ließ sie schnell die Augen wieder öffnen und fast erschraken sie, obgleich der Hund genauso aussah, wie sie ihn gewollt hatten. Gierig schnappte er nach den Sonnenstrahlen, schluckte sie herunter und prustete nun einen so heissen Atem aus seinen Nüstern, dass jeder Eindringling, getroffen von dieser Glut, wie ein trockenes Blatt zu Boden gesunken wäre. Nun mussten sie sich noch auf die Suche nach dem Ausgang machen. Als sie ihn gefunden hatten und begannen, sich einen Wächter dafür vorzustellen, wäre ihnen fast ein kleines Missgeschick geschehen. Das Mädchen, noch ein wenig erschreckt von dem wilden Hund, stellte sich diesmal nur einen Wächter mit einem Schilderhäuschen vor.

 

Der Mann aber stellte sich einen Elefanten vor, der in seinem Rüssel alle Eindringlinge nach draußen tragen könnte. Und da sie in genau dem gleichen Augenblick mit dem Wünschen begonnen hatten, stand vor ihnen nun ein Elefant, auf dessen Rücken, fest verwachsen, ein Schildhäuschen mit einem Soldaten stand. Doch als sie sahen, dass das Häuschen den Elefanten nicht drückte und er sich trotz des Aufbaus wunderbar bewegen konnte, lachten sie und nannten den Elefanten eine Schnecke.

 

Sie lachten überhaupt den ganzen Tag. Und immer wenn eine Woche vergangen war, sagte der Mann zu dem Mädchen: „Das ist jetzt die siebenundachtzigste Woche die Du und ich beisammen sind.“ Und am nächsten Wochenende sagte er: „Das ist jetzt die achtundacht-zigste Woche.“ Und später sagte er: „Das ist jetzt die dreimillionsteneunhundertachtund-sechzigste Woche, die Du und ich beisammen sind.“

 

Ab und an unternahmen sie einen Ausflug zu den Menschen. Sie besuchten dann Vater und Mutter, Geschwister und Freunde oder schauten was sich auf der Erde alles inzwischen verändert hatte. Doch am liebsten waren sie in ihrem Garten. So konnte es einmal geschehen, dass dem Mädchen, als sie sich Flügel für die Reise wünschte, nur ein Flügel aus einer Schulter wuchs und der andere Flügel fehlte. „So ist es, wenn man die Dinge nur halben Herzens wünscht“ sagte das Mädchen zu dem Mann und sie mussten lange warten, bis der eine Flügel wieder verschwunden war, denn falsche oder halbe Wünsche sind sehr gefährlich. Sie nützten die Zeit, um sich ein Haus zu bauen. Dafür suchten sie eine sanfte Mulde im Garten, die umgeben war von ihren Lieblingsbäumen. „Diesmal wünschen wir etwas sehr Wichtiges und dürfen keine Fehler machen“ sagten sie einander und berieten deshalb sehr lange wie das Haus aussehen sollte. Als sie gründlich nachgedacht hatten, entschieden sie sich, dass das Haus zwei Räume haben sollte, zwei Türen, zwei Fenster, ein spitzes Dach und darunter eine Zierleiste. Aber vor allem sollte der Boden des Hauses ganz schräg sein. Das war ein besonders gescheiter Einfall des Mannes. Denn wenn nun einer der beiden einen falschen Wunsch hätte – und falsche Wünsche fallen zu Boden, während gute Wünsche fliegen – dann würde er wie eine schwere Kugel heraus aus der Tür rollen und zerplatzen. So hatten sie sich ihr Haus vorgestellt und genauso sah es auch aus.

 

Der Mann und das Mädchen konnten sich ein Leben ohne den anderen gar nicht mehr vorstellen. Obgleich das Mädchen wusste, dass sie ihn mehr lieben würde, als jeden König dieser Welt, nannte das Mädchen den Mann King. Und er, obgleich er wusste, dass seine Liebe zu ihr süßer war, als das süßeste Stückchen Zucker, nannte sie Sweetie. Denn beide erkannten, dass es keine Worte und keine Namen gab, die schön genug wären, um ihr Glück zu benennen.

 

Mit der Zeit dachten sich das Mädchen und der Mann auch eine Reihe Spiele aus. Und um nicht zu vergessen, wie es auf der Erde zugeht, erfanden sie das Drachenspiel. Sie verwandelten sich in furchterregende Ungeheuer und kämpften miteinander. Aber da sie wussten, dass sie voreinander keine Angst zu haben brauchten, vergnügten sie diese Abenteuer.

 

Es braucht nicht besonders erwähnt zu werden, dass das Mädchen und der Mann nie eines der vielen Tieren in ihrem Garten jagten, um sich daraus einen Braten zu machen, denn sie wollten, dass keinem Wesen, und sei es noch so klein, ein Leid zugefügt werde. Wenn also die Essenszeit nahte, begann das Mädchen sich die Speisen, die sie dem Mann bringen wollte, vorzustellen und schon wuchs ihr eine Schale aus dem Kopf, voll der frischesten Gemüse und Früchte.

 

Eines Tages sagte das Mädchen: „Wie schön wäre es, wenn unser Garten voll wäre von Kindern.“ Der Mann nickte und sie fügte hinzu: „Aber es wäre besser, wenn wir sie uns nicht nur wünschen, sondern richtig wachsen ließen, denn wir könnten etwas Wichtiges vergessen haben.“ Da sagte der Mann: „Seit einiger Zeit schon wundere ich mich über die vielen goldenen Eier, die auf dem Grunde unseres Sees liegen. Wenn das Licht zur Mittagszeit auf die Wasseroberfläche scheint, sehe ich sie ganz deutlich. Ich könnte mir vorstellen, dass aus diesen Eiern prächtige Kinder schlüpfen.“ Das Mädchen war nicht ganz sicher, ob das die richtige Art sei, Kinder zu bekommen. Aber sie machten sich gemeinsam an die Arbeit und bargen die goldenen Eier aus dem See.

 

Dann suchten sie eine Lichtung, die umgeben war von nahen Bäumen, so dass es weder zu schattig, noch zu sonnig war und pflanzten die Eier in den weichen Boden. Es wurde nun ihre Gewohnheit, jeden Morgen zu dem Platz zu gehen und die Eier zu betrachten. Zu ihrer großen Freude konnten sie tatsächlich bald sehen, wie die goldenen Schalen sich dehnten und die Eier grösser und grösser wurden.

 

Eines Tages entdeckten sie etwas, das sie noch lange Zeit beschäftigte. Ganz deutlich hörten sie, wie in einem Ei ein kleines Stimmchen sang. Nun konnten sie es kaum mehr erwarten bis zum Aufspringen der Schalen.

 

Manchmal gingen sie zu der Lichtung, um den Eiern Geschichten zu erzählen, vor allem die Geschichte ihrer Liebe, und sie hörten dann, wie es ganz still wurde und die Kinder in den Schalen staunend lauschten.

 

Endlich war es dann so weit. Ein Jubel breitete sich in dem Garten aus und mindestens hundert kleine Kinder sprangen über die Lichtung und suchten den Mann und das Mädchen, um beide zu umarmen. Die allgemeine Freude wollte kein Ende nehmen. So beschloss man, ein großes Fest zu geben. Alle versammelten sich auf der Lichtung und die Kinder nannten der Reihe nach ihre Namen. Das Mädchen und der Mann schauten sich glücklich an und begannen noch an diesem Tag, die Kinder die Kunst des Wünschen zu lehren.

 

Und da sie nicht gestorben sind, leben sie heute noch so.

IL292

 

Das Märchen vom Mädchen, das auszog, das Lieben zu leben, 1974

 

88 cardboard panels with 35 photographs and 35 texts by

Ingeborg Lüscher

Each panel 17 x 23 cm

Edition of two

 

The Estate of Edith Löffler, Tegna

(one of two copies)

 

Provenance

The artist

Edith Löffler, Berlin

 

Catalogues

Wiesbaden 1993, p 95

Aarau 1996, p 82-83

 

Texts

Lüscher/Resseler 1996, p 82-83